- Zusammenhang von Klimakrise und Pandemien
Anfang Dezember 2020 bilanzierte UN-Generalsekretär Antonio Guterres zum Zustand der Erde, der Planet sei – um es einfach auszudrücken – kaputt und die Menschheit führe einen Krieg gegen die Natur. Dies sei Selbstmord, denn die Natur schlage zurück und zwar mit wachsender Kraft: Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei die Menschheit mit einer verheerenden Pandemie, mit neuen globalen Hitzerekorden und ökologischem Zerfall konfrontiert. Ökosysteme verschwinden rasant vor unseren Augen und die Artenvielfalt kollabiert. Eine Million Arten sind vom Aussterben bedroht. Weltweit sind bis April 2021 über 3,1 Millionen Menschen an oder mit COVID-19 gestorben.[1] Eine weitere große Zahl kämpft mit den Langzeitfolgen. Der wirtschaftliche Schaden ist ein Schock, dessen Ausmaß alles in den Schatten stellt, was die Weltwirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg an Krisen erlebt hat. Vielfältige weitere gesellschaftliche Schäden werden erst nach und nach in Zahlen erfasst.
Eine aktuelle Studie vom Institut für sozial-ökologische Forschung in Frankfurt bestätigt, dass die derzeitige weltweite Pandemie ein Spiegel unserer Umgangsweise mit der Erde ist und die Krisen eng miteinander verwoben sind. Bei der Entstehung von Pandemien spielt der Mensch eine entscheidende Rolle: So sind die menschengemachte Umweltzerstörung und der tiefe Eingriff in die Ökosysteme die Voraussetzungen und Beschleuniger für die derzeitige Pandemie.[2] Durch die Nutzung von natürlichen Ressourcen aus den Ökosystemen und durch das Eindringen des Menschen in Naturräume, z. B. für Waldrodungen, kommt dieser immer häufiger mit seltenen Wildtierarten und so auch deren Krankheitserregern in Kontakt. Diese können auf menschliche Populationen überspringen.
Zoonosen, also Infektionskrankheiten, die von Bakterien, Parasiten, Pilzen oder Viren verursacht und wechselseitig zwischen Tieren und Menschen übertragen werden können, sind eine große Gefahr, und sie nehmen seit Jahrzehnten zu. Der Mensch selbst sorgt für diese nicht vorgesehenen Berührungspunkte und eröffnet ihnen die Möglichkeiten, weltverändernde Zustände wie die aktuelle COVID-19-Pandemie herbeizuführen. Neben SARS-CoV-2 verbreiten sich als Folge des zunehmenden Bevölkerungsdrucks, der menschengemachten Umweltzerstörung und des Anstiegs der Durchschnittstemperatur auch andere bisher eher tropische Krankheiten wie Malaria und Dengue-Fieber schneller und weiter.[3] Krankheiten wie COVID 19 oder Ebola treten häufiger und mit größerer Intensität auf. So schrecklich die gegenwärtige Realität ist: COVID 19 bleibt ein Warnschuss, denn eine Vielzahl an Krankheitserregern aus der Tierwelt hat das Potenzial, Pandemien auszulösen. Beispielsweise in den Regenwäldern zirkulieren noch weitaus gefährlichere Viren.
Nicht nur führen Erderhitzung, Waldabholzungen und Urbanisierung dazu, dass der Lebensraum für Wildtiere dramatisch schrumpft und dass das natürliche Kontrollverhältnis zwischen den Arten durch den Verlust einzelner Tierarten aus dem Gleichgewicht gerät. Eine weitere entscheidende Ursache für die globalen Krisen ist der weltweit hohe Konsum tierischer Produkte, vor allem von Fleisch. Die Haltung von Tieren und die Verarbeitung der Produkte machen laut UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation 14,5 % der weltweiten Treibhausgasemissionen aus und beanspruchen immense Landmassen. Zudem entstehen auch durch Massentierhaltung gefährliche multiresistente Keime.
Einen direkten Zusammenhang stellte das Bundesumweltamt auch zwischen starker Luftverschmutzung und schweren Verläufen von COVID-19-Infektionen fest: „Bei der Suche nach Ursachen für die regional sehr unterschiedlichen Infektions- und Todeszahlen bei COVID-19-Infektionen wird auch die Luftverschmutzung, insbesondere die Konzentration an Feinstaub (PM2,5 und PM10) und Stickoxid (NO2), genannt.“[4] Weiter heißt es:
„Luftschadstoffe können Erkrankungen der Atemwege wie Asthma und COPD sowie Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems (mit-)verursachen. Dies könnte dazu führen, dass Menschen in Gebieten mit hoher Luftschadstoffbelastung empfindlicher auf eine Infektion mit SARS-CoV-2 reagieren und die Infektion bei solchen Patientinnen und Patienten einen schwereren Verlauf zeigt als bei Menschen mit einem weniger vorgeschädigten Atemwegs- und Herz-Kreislaufsystem“.[5]
Verfassungsrechtlich hat der Staat Verantwortung für die künftigen Generationen und dafür die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen. Auch wenn wir uns vor weiteren Pandemien schützen wollen, halten immer mehr Expert:innen es für unausweichlich, uns hin zu mehr Naturschutz und einer gerechteren Form des Zusammenlebens zu verändern. Naturschutzbünde, Wissenschaftler:innen und auch die Beiräte, welche die Regierung in Klimafragen beraten, kritisieren, dass Klima- und Naturschutz deutlich zu kurz kommt und der Faktor Mensch als Ursache für Pandemien noch immer nicht ausreichend wahrgenommen wird. Klimaschutz bedeutet Pandemieschutz.
Weiterhin ist ein Ausstieg aus der gegenwärtig üblichen Massennutztierhaltung oder zumindest eine drastische Reduktion sowohl ethisch als auch wegen der Probleme für das Klima geboten. Entwaldungsfreie Lieferketten und die Unterbindung von illegalem Wildtierhandel sind weitere wichtige Beiträge, um Wildnis und intakte Ökosysteme zu erhalten und so das Risiko für Pandemien zu verringern. Prof. Dr. Josef Settele – u. a. Mitglied des Sachverständigenrates für Umweltfragen (SRU) der deutschen Bundesregierung – spricht von einer Triple-Krise aus Artensterben, Pandemien und Klimawandel. Wir schließen uns der weltweiten interdisziplinären Wissenschaft an: COVID 19 und die Klimakrise müssen einen Wendepunkt darstellen. Dies ist ein Moment der Wahrheit, und Berlin hat seinen Beitrag zu leisten.
- Soziale Gerechtigkeit und Klima
3.2.1 Klimagerechtigkeit global
Der Wohlstand des globalen Nordens lässt sich ganz wesentlich auf eine koloniale, rassistische Vergangenheit zurückführen, und die Lebensweisen der Gesellschaften sind bis heute imperial geprägt. Konsum, Besitzverhältnisse und Lebenschancen sind global ungleich verteilt, die Berichterstattung darüber ist überwiegend interessengesteuert. In den aktuellen Abhängigkeitsverhältnissen sind es mehrheitlich Frauen, Kinder und ethnische Minderheiten wie indigene Menschen, die von Ausbeutung betroffen sind, wohingegen die Menschen des globalen Nordens eher am Ende der Produktionskette zu finden sind. Menschenunwürdige Arbeitsplätze, Nötigung bis hin zu Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen in den Fabriken von Bangladesch, in denen unsere Billig-Kleidung produziert wird,[6] die Vertreibung und Tötung indigener Menschen für den Sojamittelanbau oder die lebensgefährliche Kinderarbeit für die Rohstoffe zur Herstellung von Handy-Akkus[7] sind nur einige Beispiele für die schrecklichen Seiten des kapitalistischen Systems, an dessen Aufrechterhaltung vornehmlich der globale Norden interessiert ist. Auch der Wohlstand Deutschlands fußt auf Ausbeutungsverhältnissen und menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen in den Ländern des globalen Südens. Gegen diese Verhältnisse vorzugehen, ist unsere Verantwortung und ethische Verpflichtung.
Als Industrienation ist Deutschland zudem ein starker Treiber des Klimawandels, während die Länder mit den geringsten CO2-Fußabdrücken zumeist auch jene sind, die am frühesten und stärksten durch die sich verschärfende Klimakrise betroffen sind.[8] [9] Extremwetterereignisse wie Dürren und Ernteausfälle sind kein Thema der Zukunft, sondern für viele Ökosysteme und Menschen im globalen Süden und zunehmend auch in Deutschland seit Jahren zerstörerische Realität. Besonders die Landwirtschaft ist stark von den Klimaveränderungen (Temperaturen, Niederschläge, etc.) betroffen. Anfälligkeit für Krankheiten und Schädlinge, aber auch Boden- und Wasserdegradation sind weltweit und auch in Deutschland ernstzunehmende Gefahren. Dies gefährdet unmittelbar die Menschenrechte aller Menschen, die direkt auf die Landwirtschaft als Betätigungsfeld angewiesen sind, aber auch als Verbraucher:innen. Darüber hinaus stellt die Landwirtschaft die Lebensgrundlage für uns alle dar, denn sie liefert Nahrung. Ein Nichthandeln greift das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit an, welches international sowie national eines der am höchsten gestellten Rechtsgüter ist. Es werden zunehmend Klagen von Betroffenen gegen die Umweltzerstörung und den Entzug der Lebensgrundlagen vor Gerichten verhandelt, aktuell in Australien, Europa und Südamerika.
Besonders Kinder leiden unter den gesundheitlichen Folgen der Klimakrise, u. a. durch die Verbreitung infektiöser Erkrankungen und einem erhöhten Risiko für Mangelernährung durch ausbleibende/ verringerte Ernten.[10] Sie tragen 88 % der entstehenden Krankheitslast, obwohl sie am wenigsten für zur Klimakrise beigetragen haben. Am höchsten ist das Risiko für Kinder im globalen Süden.[11]
Die starken wirtschaftlichen Kapazitäten Deutschlands beruhen u. a. auf lange bestehenden Machtverhältnissen, und Deutschland profitiert bis heute von Techniken und Prozessen, in denen große Mengen Treibhausgase emittiert werden. Den Großteil der ökologischen und sozialen Kosten für diese Emissionen tragen jedoch die Länder des globalen Südens. Historisch steht Deutschland in der Pflicht, Vorbild zu sein und einen entsprechend größeren Anteil der CO2-Reduktion, des Naturschutzes und der Maßnahmen zur Bewahrung einer gesunden Landwirtschaft, Artenvielfalt und Natur zu leisten.[12]
3.2.2 Klimagerechtigkeit in Deutschland
Die Klimakrise ist auch für Deutschland eine soziale Frage, denn die Folgen des Klimawandels wirken sich ebenso hierzulande sozial ungleich aus: So trifft die Krise Frauen, marginalisierte Gruppen, von Diskriminierung betroffene Menschen und strukturell Benachteiligte besonders stark, da diese gesellschaftlich insgesamt weniger Ressourcen und Sicherheiten besitzen. Ihre Möglichkeiten, persönliche Belastungen durch entsprechende Anpassungsleistungen zu reduzieren, sind eingeschränkt. Sie können es sich seltener leisten, ihre Hausgeräte und Fahrzeuge auf umweltfreundliche Standards nachzurüsten oder den eigenen Kindern ein Leben in einer gesunden außerhäuslichen Umwelt zu ermöglichen.
Da die Klimakrise bereits bestehende soziale Ungerechtigkeiten verschärft, muss ein sozial gerechter Ausgleich stattfinden, der zum Ziel hat, dass alle Menschen gegenüber den Auswirkungen der Klimakrise gleichwertig resilient sind. Gleichberechtigte Teilhabe, d. h. verstärkte Partizipationsmöglichkeiten für alle bisher im politischen System unterrepräsentierten Gruppen sind hier ein wichtiger Baustein. Die untrennbare Verbindung von ökologischer und sozialer Transformation ist daher zwingend erforderlich.
Gerechtigkeit muss auch in Bezug auf Umweltgüter (Güter, welche die natürliche Umgebung bereitstellt, wie Sonne, saubere Luft, Wasser, fruchtbare Böden, Pflanzen, Tiere, Erholungsräume, etc.) gewährleistet sein. Umweltgüter sind „öffentliche Güter“ und ihr Konsum fällt in die Sphäre der an Gleichheitsprinzipien orientierten Gesellschaft, nicht der an Leistungsprinzipien orientierten Wirtschaft. Der Zugang zu öffentlichen Gütern muss jedem Menschen gleichermaßen möglich sein, sonst droht die klimabedingte soziale Exklusion ganzer Gesellschaftsschichten.
- Verpflichtungen statt Ziele
Elementar für einen schnellen und effektiven Klimaschutz ist die Festlegung konkreter Verpflichtungen. Ziele beschreiben lediglich die Absicht, die beschlossenen Punkte verwirklichen zu wollen. Bei Absichtserklärungen fehlt jedoch die Verbindlichkeit, also die Verpflichtung, die beschlossenen Ziele tatsächlich zu erreichen. Im Gegensatz dazu impliziert der Begriff „Verpflichtung“, dass eine tatsächliche Umsetzung der beschlossenen Punkte zu gewährleisten ist. Da unzureichender Klimaschutz zu oben beschriebenen Szenarien und deren katastrophalen Folgen führen wird, die alle Menschen der Erde real betreffen, fordern wir hiermit möglichst rechtsverbindliche Klimaschutzverpflichtungen anstelle von allgemeinen, vagen Aussagen und Zielen. Wir fordern eine rechtliche Haftbarkeit und Verantwortung des Landes Berlins sowohl für potentielles Nicht-Handeln oder Nichterfüllen der festgeschriebenen Verpflichtungen als auch für weitere daraus resultierende Konsequenzen.
Mit der Formulierung „es ist die Gesamtsumme der Kohlendioxidemissionen … zu verringern“ im § 3 soll eine klare Verpflichtung festgehalten werden. Diese Formulierung soll einen höheren Standard von Rechtsverbindlichkeit darstellen als das bisher verwendete Wort „soll”. Jeder Ermessensspielraum in der Frage des Erfüllens oder Nichterfüllens (d. h. der Verringerung der Emissionen) soll damit abgeschafft werden. Das Erfüllen der Klimaschutzziele für Berlin darf im Angesicht des unaufhaltsam voranschreitenden Klimawandels keine Ermessensfrage sein (egal wie eingeschränkt dieses Ermessen sein mag). Stattdessen muss es eine klare Selbstverpflichtung des Landes Berlin hin zu mehr Klimaschutz und verpflichtenden Kontrollgrößen geben, die das Land Berlin dazu bewegen, alles zu tun, um seinen Klimaverpflichtungen nachzukommen. Wir fordern, diese Dringlichkeit und die Selbstverpflichtung des Landes Berlin sowohl durch den Begriff „Verpflichtung” als auch durch die Formulierung „ist zu verringern“ zu verdeutlichen. Denn nur eine klar formulierte Handlungspflicht mit eindeutig zu erfüllenden Ergebnissen wird der Bedeutung des Klimawandels für unsere Gegenwart und Zukunft gerecht.
Über den Rahmen der wörtlichen Gesetzesänderung hinaus fordern wir hiermit den Senat auf, dass er zusätzlich einen rechtsverbindlichen Sanktionsmechanismus ins EGW Bln einfügt. Dieser Sanktionsmechanismus soll sich auf alle Adressaten des EWG Bln beziehen und soll u. a. die Vollstreckung des EWG Bln und bessere Einklagbarkeit möglicher Verstöße voranbringen. Einen derartigen Sanktionsmechanismus fordern wir ebenso für jegliche weiteren Ausführungsbestimmungen und Rechtsverordnungen, die auf Grund des EWG Bln erlassen werden.
Die hier angeführten Fristen 2025 und 2030 sind aufgrund von Berechnungen gesetzt, die der aktuellen wissenschaftlichen Faktenlage entsprechen und in nationalen sowie internationalen Studien veröffentlicht wurden. Demnach wird die von Berlin derzeit geplante Klimaneutralität bis 2045 bei Weitem nicht ausreichen, um die globale Erderhitzung auf 1,5°C zu begrenzen.
Der Weltklimarat (IPCC) definiert verschiedene Konzentrationspfade anhand möglicher Emissionsentwicklungen. Ihre entsprechenden Auswirkungen auf das Erdklimasystem werden in sogenannten RCP-Szenarien aufgezeigt. Die Emissionen der vergangenen 15 Jahre seit 2005 entsprechen dabei am ehesten dem RCP8.5-Szenario. Dieses wird oft als „Worst-Case“-Szenario bezeichnet und geht von einer Erhöhung der Durchschnittstemperatur um 3,3°C bis 5,4°C bis 2100 aus.[13] In einem solchen Klima ist ein Fortbestehen der uns bekannten menschlichen Zivilisation wegen zahlreicher miteinander verbundener Krisen kaum noch möglich. Geht man von den derzeitigen nationalen Selbstverpflichtungen der Staaten zur Emissionsminderung aus, befinden wir uns aktuell zwischen den Szenarien RCP 4.5 und RCP 8.5., und die bisherigen Klimaschutzziele führen auf ein Szenario RCP 8.5 zu.[14]
Selbst ein Anstieg um 2,0°C – der Minimalkonsens von Paris – ist keine tragbare Option. Wie in verschiedenen Modellen berechnet, würden 2,0°C Erderhitzung hohe bis sehr hohe Risiken für diverse Ökosysteme bedeuten und die Lebensgrundlagen für signifikante Teile der Menschheit zerstören. Zudem besteht in einem 2,0-Grad-Szenario eher die Gefahr, dass irreversible Rückkopplungseffekte (siehe Kapitel zu Kipppunkten) zu einer dauerhaften Heißzeit führen. Somit sind alle Bemühungen, die Erwärmung auf 1,5°C zu begrenzen, alternativlos.[15] Hans-Josef Fell, Initiator des Erneuerbare Energien Gesetzes (EEG) und Präsident der Energy Watch Group, verdeutlicht, wie nah wir uns bereits an dieser Schwelle befinden:
„So hat der Copernicus Climate Change Service der EU kürzlich festgestellt, dass die Atmosphärentemperatur in den 12 Monaten ab September 2019 bereits bei knapp 1,3°C über dem vorindustriellen Niveau lag und Berechnungen des Weltklimarats IPCC zeigen, dass von einer Erderhitzung von 1,5°C bereits im Jahr 2030 auszugehen ist. Der Temperatursprung im letzten Jahrzehnt betrug knapp 0.2°C. In diesem Jahrzehnt bis 2030 wird er wegen höherer Treibhausgaskonzentration und anspringenden Kipppunkte wahrscheinlich noch darüber liegen, womit alles dafür spricht, dass 1,5°C um 2030 schon überschritten sein werden.”[16]
Eine große Problematik ist, dass die meisten Staaten, Regionen und Kommunen sich lediglich beliebig definierte prozentuale Reduktionsziele setzen, statt sich am verbleibenden globalen Restemissionsbudget zu orientieren. Wie knapp die Zeit ist, um die 1,5°C-Grenze zu halten, veranschaulicht die CO2-Uhr des Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change[17]: Aktuell (Mitte April 2021) bleiben der Menschheit nur noch etwa 6 Jahre und 8,5 Monate, bis das CO2-Budget aufgebraucht ist. So kommt der (eher konservativ rechnende) IPCC in einem Sonderbericht 2018 zu dem Schluss, dass aktuelle Zusagen zum Klimaschutz der Regierungen weltweit nur etwa 50 % der Emissionsreduktion bewirken, die nötig sind, um eine Begrenzung auf 1,5°C zu erreichen.[18]
Auch Deutschland drückt sich bislang vor der Verantwortung: Entgegen der Stellungnahme des Sachverständigenrats für Umweltfragen an das Klimakabinett, in dem ein gerechtes Emissionsbudget für Deutschland mit 7,3 Milliarden Tonnen ab Anfang 2019 (6,6 ab Anfang 2020) identifiziert wurde (Stand 16.09.2019)[19], beansprucht Deutschland mit dem beschlossenen Klimapaket faktisch fast doppelt so viel, wie unserem Anteil an der Weltbevölkerung (1,1 %) entspricht.[20] Dies ist hochgradig ungerecht gegenüber den Schwellen- und Entwicklungsländern und widerspricht der im Pariser Abkommen verankerten besonderen Verantwortung der Industriestaaten, einem Zusammenbrechen des globalen Klimasystems entgegenzuwirken. Eine Studie mit dem Titel „1,5°C: Was Deutschland tun muss” des New Climate Institute untermauerte 2019, dass die bisherigen Anstrengungen der Bundesregierung zur CO2-Reduktion zu wenig ambitioniert sind: „Um unbestreitbar mit der 1,5°-Grad-Grenze kompatibel zu sein und seiner globalen Verantwortung gerecht zu werden, muss Deutschland seinen Treibhausgasausstoß bereits bis zum Jahr 2030 auf null reduzieren.”[21]
„Folgt die Bundesregierung dem Umweltrat, müsste die Bundesregierung jährlich 40 Millionen Tonnen CO2 einsparen – eine fünfmal so schnelle Minderung wie in den vergangenen dreißig Jahren. Diese Zahlen beziehen sich nur auf CO2, das 88 Prozent der deutschen Treibhausgasemissionen ausmacht, andere Klimagase sind hier nicht berücksichtigt“ [22], so Prof. Dr. Rahmstorf (PIK).
Allgemein anerkannte Grundlage für Berechnungen von CO2-Emissionsbudgets, die mit den Zielen des Pariser Klimaabkommens konform wären, ist der bereits oben erwähnte IPCC-Sonderbericht von 2018. Der Bericht zeichnet verschiedene Korridore auf, die je nach Anstieg der Durchschnittstemperatur und der Eintrittswahrscheinlichkeit des Szenarios variieren. Um eine Begrenzung auf 1,5ºC mit einer Wahrscheinlichkeit von 67 % zu erreichen (dies ist die höchste hier berechnete Wahrscheinlichkeit – auch wenn sie noch weit von 100 % entfernt liegt), dürfte die Welt zum Stichtag 01.01.2018 noch 420 Gigatonnen CO2 freisetzen.[23]
Setzt man die Bevölkerungszahl Berlins von Mitte 2018 (3,619 Mio)[24] ins Verhältnis zur Weltbevölkerung (7,631 Mrd)[25], kommt man zu einem Anteil von 0,047 %. Dementsprechend standen Berlin – bei einer Pro-Kopf-Verteilung des Restbudgets – im Jahr 2018 noch 197,4 Mio Tonnen CO2 zu. Zieht man davon den Berliner CO2-Verbrauch (CO2-Emissionen aus dem Endenergieverbrauch, Verursacherbilanz) der Jahre 2018 und 2019 – der letzten beiden Jahre, aus denen Daten vorliegen – also 18,5 und 17,2 Mio Tonnen ab, blieben Anfang 2020 161,7 Mio Tonnen übrig.[26] Die durchschnittliche Dynamik, mit der die CO2-Emissionen 2015-2019 gesunken sind, beträgt minus 0,56 Mio Tonnen pro Jahr.[27] Schreibt man diesen Trend fort, würde Berlin tatsächlich im Jahr 2050 klimaneutral werden. Nimmt man jedoch das verbleibende Berliner Emissionsbudget zur Grundlage, wie oben aufgeführt, wäre dieses bereits Ende 2027 aufgebraucht.
Bei dieser Berechnung sind allerdings mehrere relevante Aspekte noch nicht berücksichtigt:
1) Die historische Dimension: Deutschland – und seine Hauptstadt – haben ihren heutigen Wohlstand nur deshalb erreicht, weil sie seit der industriellen Revolution deutlich mehr Emissionen verursacht haben als Schwellen- oder Entwicklungsländer. Dementsprechend würden ihnen aus einer Gerechtigkeitsperspektive nun verhältnismäßig weniger zustehen als anderen Staaten und Städten.
2) Es ist nicht mit einem weiteren linearen Absinken der Emissionen zu rechnen, da die Reduktion der letzten 10er-Prozentschritte deutlich schwieriger ausfallen dürften. Zudem gibt es einzelne Sektoren, in denen bislang kaum bis keine Reduktionen erreicht wurden, wie z. B. der Verkehrssektor. Hier werden Reduktionen voraussichtlich langsamer zu erwirken sein.
3) Berlins „faires” Budget im Verhältnis zum Rest der Bundesrepublik kann nicht allein anhand der Bevölkerungszahl abgeleitet werden, da Berlin eine hohe Bevölkerungsdichte mit einer gleichzeitig vergleichsweise geringen Industriedichte aufweist. Die Berliner:innen konsumieren jedoch auch zahlreiche Produkte, die nicht in Berlin hergestellt wurden – insgesamt müsste bei einer konsumorientierten Emissionsbilanz vermutlich von einem höheren pro-Kopf-Wert für Berlin ausgegangen werden.
4) Es wurde hier (aufgrund der mangelnden Daten) nur das CO2-Budget berechnet. Bei zukünftigen Anpassungen müssten weitere Klimagase mit einbezogen werden.
5) Eine Einhaltung der 1,5°-Grad-Grenze kann mit dem hier aufgezeigten Reduktionspfad nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 67 % (siehe oben) erreicht werden.
Die aufgeführten Punkte machen deutlich, dass eine noch drastischere Reduktion nötig ist und dass diese in den vergangen Jahren und Jahrzehnten versäumt wurde. Die hier vorgeschlagenen Zielmarken 2025 (-70 % im Vergleich zu 1990) und 2030 (-95 %) sind angesichts dessen bereits weitgehend ein Kompromiss, der eine realistische Umsetzung gewährleisten soll. Denn auch auf dem Weg der abgestuften Reduktion findet weiterhin die Emission von Treibhausgasen statt, die noch lange klimawirksam sind. CO2 hat zum Beispiel eine durchschnittliche Verweildauer von über 100 Jahren und kann bis zu 10.000 Jahre in der Atmosphäre verbleiben.
[1] “COVID Live Update: Cases and Deaths from the Coronavirus – Worldometer.” 2021. https://www.worldometers.info/coronavirus/.
[2] Vgl. UNEP. 2020. Preventing the next Pandemic: Zoonotic Diseases and how to break the Chain of Transmission. https://www.un.org/Depts/Cartographic/.
[3] Vgl. Stark, K., M. Niedrig, W. Biederbick, H. Merkert, and J. Hacker. 2009. “Die Auswirkungen des Klimawandels. Welche neuen Infektionskrankheiten und gesundheitlichen Probleme sind zu erwarten?” Bundesgesundheitsblatt. https://doi.org/10.1007/s00103-009-0874-9.
[4] Umweltbundesamt. 2020. “Coronaviren Und Umwelt: Gibt es einen Zusammenhang zwischen COVID-19-Infektionen mit dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 und Luftverschmutzung?” https://www.umweltbundesamt.de/coronaviren-umwelt#gibt-es-einen-zusammenhang-zwischen-covid-19-infektionen-mit-dem-neuartige-coronavirus-sars-cov-2-und-luftverschmutzung.
[5] ebd.
[6] Vgl. Bangladesh Center for Workers Solidarity (BCWS); FEMNET. 2020. Gender-Based Violence in the Garment Sector of Bangladesh: A Study on Cases, Causes and Cures Content.
[7] Vgl. DW. 2017. “Kongo: Kinderarbeit Für Smartphones?”. https://www.dw.com/de/kongo-kinderarbeit-für-smartphones/a-39187274.
[8] Vgl. Gore, Tim. 2020. “Confronting Carbon Inequality: Putting Climate Justice at the Heart of the COVID-19 Recovery.” www.oxfam.org.
[9] “The Carbon Map.” 2021. https://www.carbonmap.org/.
[10] Vgl. Helldén, Daniel; Andersson, Camilla; Nilsson, Maria; Ebi, Kristie L.; Friberg, Peter, and Tobias Alfvén. 2021. “Climate Change and Child Health: A Scoping Review and an Expanded Conceptual Framework.” The Lancet Planetary Health. Elsevier B.V. https://doi.org/10.1016/S2542-5196(20)30274-6.
[11] ebd.
[12] Vgl. Rahmstorf, Stefan. 2019. “Emissionsbudget: Zur wichtigsten Zahl beim Klimaschutz schweigt die Regierung.” Der Spiegel. https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/emissionsbudget-zur-wichtigsten-zahl-beim-klimaschutz-schweigt-die-regierung-a-1292033.html.
[13] Vgl. Schwalm, Christopher R.; Glendon, Spencer, and Philip B. Duffy. 2020. “RCP8.5 Tracks Cumulative CO2 Emissions.” Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 117 (33): 19656–57. https://doi.org/10.1073/PNAS.2007117117.
[14] Vgl. ebd.
[15] Vgl. IPCC. 2018. „1,5 °C globale Erwärmung – Der IPCC-Sonderbericht über die Folgen einer globalen Erwärmung um 1,5 °C gegenüber vorindustriellem Niveau und die damit verbundenen globalen Treibhausgasemissionspfade im Zusammenhang mit einer Stärkung der weltweiten Reaktion auf die Bedrohung durch den Klimawandel, nachhaltiger Entwicklung und Bemühungen zur Beseitigung von Armut.“
[16] Fell, Hans-Josef, and Thure Traber. 2020. Der Pfad einer Klimaneutralität ab 2050 verfehlt die Klimaziele von Paris. Der steinige Weg zur Ehrlichkeit in der Klimapolitik. EWG Policy Paper. Berlin: Energy Watch Group – EWG.
[17] MCC. n.d. “Verbleibendes CO2-Budget – Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC).” Accessed April 22, 2021. https://www.mcc-berlin.net/forschung/co2-budget.html.
[18] Vgl. IPCC. 2018. „1,5 °C globale Erwärmung – Der IPCC-Sonderbericht über die Folgen einer globalen Erwärmung um 1,5 °C gegenüber vorindustriellem Niveau und die damit verbundenen globalen Treibhausgasemissionspfade im Zusammenhang mit einer Stärkung der weltweiten Reaktion auf die Bedrohung durch den Klimawandel, nachhaltiger Entwicklung und Bemühungen zur Beseitigung von Armut.“
[19] SRU. 2020. “Umweltgutachten. Pariser Klimaziele erreichen mit dem CO2-Budget.”
[20]Vgl. SRU. 2019. “Stellungnahme des Sachverständigenrat für Umweltfragen: Für die Umsetzung ambitionierter Klimapolitik und Klimaschutzmaßnahmen.” https://www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/04_Stellungnahmen/2016_2020/2019_09_Brief_Klimakabinett.pdf;jsessionid=9CA1D2A6C1BFF42E30F0F070B6B0154C.1_cid292?__blob=publicationFile&v=8.
[21] Höhne, Niklas; Emmrich, Julie; Fekete, Hanna, and Takeshi Kuramochi. 2019. “1,5°C: Was Deutschland Tun Muss.” http://newclimate.org/publications/.
[22] Rahmstorf, Stefan. 2019. Emissionsbudget: Zur wichtigsten Zahl beim Klimaschutz schweigt die Regierung. Der Spiegel. https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/emissionsbudget-zur-wichtigsten-zahl-beim-klimaschutz-schweigt-die-regierung-a-1292033.html.
[23] Vgl. IPCC. 2018. „1,5 °C globale Erwärmung – Der IPCC-Sonderbericht über die Folgen einer globalen Erwärmung um 1,5 °C gegenüber vorindustriellem Niveau und die damit verbundenen globalen Treibhausgasemissionspfade im Zusammenhang mit einer Stärkung der weltweiten Reaktion auf die Bedrohung durch den Klimawandel, nachhaltiger Entwicklung und Bemühungen zur Beseitigung von Armut.“
[24] Amt für Statistik Berlin-Brandenburg. 2018. “Statistischer Bericht A I 1 – vj 2 / 18; A II 4 – vj 2 / 18: Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungsstand in Berlin 2. Quartal 2018.”
[25] Nations, United. n.d. “World Population Prospects – Population Division.” Accessed April 22, 2021. https://population.un.org/wpp/Download/Standard/Population/.
[26] Statistik Berlin-Brandenburg. 2020. “Statistischer Bericht E IV 5 – j / 19: Energie- Und CO2-Daten in Berlin 2019.” https://www.statistik-berlin-brandenburg.de/publikationen/stat_berichte/2020/SB_E04-05-00_2019j01_BE.xlsx&sa=D&source=editors&ust=1618746109467000&usg=AOvVaw3E7LjFCgDRR8PqKQXOXYKX.
[27] ebd.